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Die geheime Reise der Mariposa - Michaelis Antonia - Страница 7


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Jose wartete lange, doch der fremde Junge tauchte nicht wieder auf. Eine Weile hatte er ihn dort unten herumtappen horen, aber nun war es still. Die Nacht und die Mariposa gehorten ihm allein. Er hatte eine Menge Zeit, uber den fremden Jungen nachzudenken, aber seine Gedanken wurden immer zaher und verworrener. Die beiden Amerikaner lehnten darin am Mast und tranken Bier. Seine Bruder sa?en auf dem Dach der Kajute und sortierten Saatgut, wahrend Mama Carmelita mit einer gro?en Schere das Gro?segel zerschnitt, um Kleider fur Joses kleine Schwestern daraus zu nahen. »Lasst das bleiben!«, wollte er rufen, und da merkte er, dass er traumte.

Er riss sich zusammen und korrigierte den Kurs, aber Minuten spater war er wieder weggenickt. So kampfte er bis zum Morgengrauen einen Kampf gegen sich selbst und seine Mudigkeit. Und als das Meer im Osten eine rote Blase ausstie?, die uber den Horizont hinaufstieg und sich schlie?lich vom Wasser loste, da begriff er erst nach einer Weile, dass dies kein Traum war, sondern die Sonne. In diesem Moment wurde ihm klar, dass er den Jungen brauchte, den er aus dem Wasser gezogen hatte. Egal, wer er war. Er brauchte jemanden, der das Steuer ubernahm, wenn er mude wurde. In dieser Nacht war der Wind lau – bei jedem anderen Wetter wurde es nichts nutzen, das Steuer einfach festzustellen.

Er wusste nicht, wie lange er zur Isla Maldita brauchen wurde, aber plotzlich erschrak er uber sich selbst, uber die Idee, es allein zu versuchen. Du bist verruckt,sagte die Abuelita, loco. Aber Dios, Gott, hat dich gesehen, da unten auf dem riesigen Ozean, auf deinem Honigboot, deiner Totenbarke, und er hat dir jemanden vor den Bug geworfen, der …

»Unsinn«, sagte Jose laut. »Abuelita, Gott wirft nicht mit fremden Jungen, nicht einmal uber dem Pazifik, und wieso bist du uberhaupt schon wach um diese Zeit?«

Er schuttelte die alte Frau aus seinem Kopf, befestigte das Steuer abermals und stieg die vier Stufen zur winzigen Tur der Kajute hinunter. Er offnete die Tur vorsichtig. Das erste rote Morgenlicht stromte in den kleinen Raum, als hatte es sich seit Stunden danach gesehnt, ihn zu erhellen. Wie Wasser stieg es an den Wanden hoch, und als es die Kabine ganz ausgefullt hatte, fand Jose darin den fremden Jungen. Er lag auf der Steuerbordbank, in Joses Kleidern, halb in eine Decke gewickelt. Die Decke musste er irgendwo in der Kajute gefunden haben. Vielleicht, dachte Jose, war der alte Casaflora unter dieser Decke gestorben. Vielleicht auf dieser Bank. Aber die Brust des Jungen hob und senkte sich regelma?ig und sehr lebendig.

Auf dem kleinen Tisch in der Mitte der Kajute lagen seine Kleider. Jose hielt die nasse Jacke ans Gesicht und atmete ihren fremden Geruch: den Geruch nach weiter Ferne, nach einer zu langen Reise und nach Angstschwei?. Er beobachtete, wie das rotliche Morgenlicht mit vorsichtigen Fingern das Gesicht des Jungen betastete. Das blonde Haar war ihm aus der Stirn gefallen und gab eine schlecht verheilte Narbe frei. Was hatte dieser Junge erlebt und wie war er hierhergekommen?

Jose kam sich vor wie ein Dieb, als er seine Jackentaschen durchsuchte. Er fand eine zusammengeknullte alte Mutze, ein rotes Seidenband … und einen Pass. Tatsachlich, einen Pass. »Jonathan Smith«, las Jose. »Geboren am 12.2.1929 in London.« Aber wer war Jonathan Smith?

Hatte Jose gewusst, dass der wahre Jonathan Smith tot war, hatte ihn das vermutlich nicht beruhigt.

Jonathan schlug die Augen auf und spurte, dass es Morgen war. Aber Morgen wo? Und wann?

Als er sich aufsetzte, stie? er sich den Kopf an einem Regal und erinnerte sich, dass er in der engen Kajute eines Schiffs war. Er sah an sich hinab und erschrak. Er trug fremde Kleider. Er horte wieder Waterwegs Worte, die er auf der ganzen Reise so oft gehort hatte: Niemand darf je erfahren, wer du wirklich bist. Er sah sich um. Wo waren seine Kleider? Hatte jemand anders sie ihm abgenommen? Nein, er hatte sie selbst ausgezogen und auf den kleinen Tisch gelegt.

Langsam fullten sich die Lucken der Erinnerung. Er war ins Wasser gefallen und hatte sterben wollen. Und jemand hatte ihn davon abgehalten. Aber seine Kleider waren nicht mehr da. Stattdessen lag auf dem Tisch ein kleiner schwarzer Gegenstand: eine Pistole. Er wog sie in der Hand und war erstaunt uber ihr Gewicht.

Das kalte Metall an seiner Schlafe fuhlte sich an, als gehorte es dorthin. Er schloss die Augen und konzentrierte sich ganz auf seinen Finger am Abzug. Er brauchte ihn nur zu krummen … Jemand riss ihm die Waffe aus der Hand. Er sah auf und blickte in das Gesicht des Jungen, der ihn aus dem Wasser gezogen hatte. Jose.

»Bist du wahnsinnig?«, rief er. »Was tust du da? Woher hast du das Ding?«

»Es lag hier auf dem Tisch«, sagte Jonathan. »Hast du es nicht dorthin gelegt?«

»Nein«, sagte Jose.

Eine Weile sahen sie sich schweigend an. Die Luft zwischen ihnen zitterte vor Anspannung.

»Ich wei? deinen Namen noch immer nicht«, sagte Jose schlie?lich und steckte die Pistole in seine Jackentasche.

»Jonathan«, sagte Jonathan.

»Gut«, sagte Jose, als ware damit alles geklart. »Komm jetzt mit. Es ist Zeit, etwas zu essen.«

Jonathan folgte ihm die vier Stufen hinauf an Deck. Das Meer lag so glei?end blau unter der Sonne, dass er einen Moment lang die Augen zukneifen musste. In der Ferne erhoben sich Inseln aus dem Blau. Etwas sprang aus dem Wasser und verschwand wieder darin, tauchte abermals auf … Delfine. Ein Schwarm ubermutiger Vogel war uber den Himmel unterwegs. Die Rucken der silbernen Fische glanzten dicht unter der Wasseroberflache.

»Hier ist so viel Leben«, sagte Jonathan. »Da, wo ich herkomme, ist nur Tod.«

Jose nickte. »London«, sagte er.

Jonathan musste sich zusammenrei?en, um nicht instinktiv den Kopf zu schutteln. »Ja«, sagte er. »Aus London.« Er war noch nie in London gewesen. Wie war es wohl in London? Wie sah es dort aus?

»Wie ist es in London?«, fragte Jose. »Wie sieht es dort aus?«

Jonathan zuckte die Schultern. »Es sieht so aus … wie … wie es eben aussieht. Soll ich das Brot schneiden?«

Er setzte sich auf eine der schmalen Banke an der Reling und nahm das Messer, das neben dem Kanten Brot lag.

»Ja, schneide nur das Brot«, sagte Jose, »aber komm nicht darauf, dir mit dem Messer die Pulsadern aufzutrennen.«

Jonathan gab Jose eine Scheibe Brot und betrachtete das Messer. »Ist es scharf genug?«

»Dieses Brot«, sagte Jose, »ist jedenfalls hart genug, um jemanden damit zu erschlagen. Da hast du gleich noch eine Methode, dich ins Jenseits zu befordern.« Er sah zu den wei?en Segeln der Mariposa auf, die sich im Wind blahten. Jonathan folgte seinem Blick. Jose hatte seine Kleider in der Takelage aufgehangt und da flatterten sie jetzt im Wind wie merkwurdige Wimpel. Das Holz des Schiffs leuchtete honiggelb in der Sonne und der Duft nach Kuhle und Geheimnissen wehte vom Meer her. Wie schon und froh alles war! Wie sehr es der kleinen Julia gefallen hatte, auf einem solchen Schiff zu segeln! Und Mama! Sie hatte sich mit einem Fernglas an die Reling gestellt und nach dem blauen Schmetterling mit den goldenen Tupfen Ausschau gehalten – jenem, den ihr alter Professor beschrieben hatte, als Mama noch an der Universitat studiert hatte. Der Professor war auf den Inseln gewesen. Durch ihn hatte Mama von ihnen erfahren, und durch Mama hatte Waterweg davon erfahren, der Jonathan hierhergeschleppt hatte. Letztendlich war der alte Professor an allem schuld …

»Jonathan?«, sagte Jose. »Ich habe dich etwas gefragt.«

»Hm?«

»Wer bist du?«

»Du hast meinen Pass in der Hand gehabt. Du wei?t, wer ich bin.«

»Nein.« Jose schuttelte langsam den Kopf. »Ich wei? gar nichts. Ich wei?, dass ich dich aus dem Wasser gezogen habe, aber ich wei? nicht, wie du hineingekommen bist. Ich wei?, dass ich eine Kajute verlassen habe, in der es keine Pistole gab, und dass da eine war, als ich zuruckkam. Ich wei?, dass du Spanisch kannst, aber ich wei? nicht, woher. Ich wei?, dass du nicht gern redest, aber ich wei? nicht, woruber du nicht redest.«

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