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Die geheime Reise der Mariposa - Michaelis Antonia - Страница 6


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Das waren bessere Worte. Die Angst tauchte zuruck ins Wasser und nahm die undenkbaren Geschopfe mit. Aber eines der Meeresungeheuer schien seinem Willen entkommen zu sein. Etwas regte sich vor ihm im Wasser, zur Linken, backbord voraus. Jose horte ein Platschern, und dann sah er im Mondlicht etwas um sich schlagen.

Die Abuelita kicherte zufrieden in seinen Gedanken. Siehst du, mein Junge,sagte ihre alte Stimme, bruchig von unzahlbaren Jahren Arbeit auf der Farm, es gibt sie doch, die Unaussprechlichen. Ich habe es euch immer gesagt: Lasst eure Finger von den Tauen und Steuerradern der Schiffe! Ihr wolltet ja nicht horen. Aber du, Jose, du treibst es toller als alle anderen. Allein hinauszufahren, in der Nacht, auf einem Totenschiff … Du hast sie gerufen, die Unaussprechlichen, und einer von ihnen ist heraufgekommen.

»Sei still, Abuelita«, flusterte Jose. »Du hast keine Ahnung, und du bist alt und au?erdem gar nicht da! Es ist nur ein Seelowe.«

Ah ja?, hohnte die Abuelita. Ein Seelowe mit langen Armen und Beinen, die durch die Nacht schnellen wie die Wedel einer Palme?

Sie hatte recht. Es war kein Seelowe. Jose horte das Keuchen des Unaussprechlichen in der Nacht. Er wollte das Steuerruder herumrei?en und fliehen, doch seine Hande waren starr vor Angst und gehorchten ihm nicht. Der Wind drehte kaum merklich, die Mariposa gierte nach Lee und drehte ihren Bug ohne sein Zutun ein wenig nach backbord, und jetzt hielt sie genau auf das zu, was kein Seelowe war. Er sah es untergehen, wieder auftauchen … – und plotzlich erkannte er, was es war.

Es war keiner der Unaussprechlichen aus der Tiefe, der versuchte, heraufzukommen. Es war ein Mensch, der versuchte, nicht unterzugehen. Ein Mensch, der mitten in der Nacht, mitten auf dem Pazifik, mit dem Tod kampfte.

Jose war mit einem Satz bei der Backbordreling. Er beugte sich hinuber und streckte beide Arme aus. Kurz darauf bekam er einen Armel zu fassen, dann ein Handgelenk, und er zog. Die Person im Wasser wehrte sich, vielleicht hielt sie Joses Griff fur den Griff des Meeres – doch sie hatte keine Kraft mehr. Er fragte sich, wie lange sie schon mit dem Wasser kampfte. Das Meer zog an seiner Beute wie ein argerliches Tier, aber schlie?lich gelang es Jose, den anderen Menschen uber die Reling zu zerren. Dann lagen sie beide an Deck in einer Pfutze aus Salzwasser.

Jose rappelte sich auf, korrigierte mit einem raschen Blick zum Himmel den Kurs und stellte das Steuerrad fest. Eine Weile wurde die Mariposa den Kurs von allein halten.

Er hockte sich neben den Korper, der sich jetzt nicht mehr ruhrte. Es war ein Junge, vielleicht so alt wie er selbst, nur viel magerer. Verglichen mit den Jungen auf den Farmen wirkte er beinahe zerbrechlich – zerbrechlich und blass wie Porzellan. Im transparenten Mondlicht sah das Gesicht des Jungen auf seltsame Art aus wie ein Puppenkopf, jedoch ein Puppenkopf ohne Wimpern und Augenbrauen … Jose beugte sich dichter uber den Jungen. Nein, er hatte Wimpern. Sie waren nur ungewohnlich hell. Und es war nicht das Mondlicht, das seine Haut so blass wirken lie?. Er war blass. Ein Europaer.

Hubscher Kerl,sagte die Abuelita in Joses Kopf und lachte ihr altes, keckerndes Lachen – und Jose wunschte, er hatte sie treten konnen, doch man tritt alte Damen nicht, nicht mal in der Fantasie. Er beugte sich uber den Jungen, um festzustellen, ob er atmete.

Genau in diesem Moment schlug der Junge die Augen auf. Sie waren beunruhigend hell, genau wie seine Wimpern. Was, fragte sich Jose, sagte man zu einem Auslander, dem man das Leben gerettet hatte? Er legte sich einen schonen englischen Satz zurecht, wurdig der Situation …

Da sagte der Junge in perfektem Spanisch: »Du Idiot!« Er hustete, spuckte noch einen Mundvoll Pazifik aus und fugte hinzu: »Was zum Teufel hast du dir dabei gedacht, mich aus dem Wasser zu ziehen?«

Als die Mariposa sich ihr naherte, war die Person, in deren Pass der Name Jonathan Smith stand, schon beinahe nicht mehr vorhanden. Das Meer hatte begonnen, Jonathans Lungen zu fullen, und er merkte, dass sein Korper sich wehrte. Er wollte sich nicht wehren, er wollte endlich heimkehren zu denen, die er verloren hatte: Mama. Papa. Julia. Sie waren tot, und um zu ihnen zu kommen, musste er ebenfalls sterben.

Er spurte den festen Griff einer Hand, und zuerst dachte er, es ware die seiner Mutter, die ihn zu sich hinuberzog. Aber dann schlug er die Augen auf und blickte in ein fremdes Gesicht, ein Gesicht mit dunklen Augen, groben Wangenknochen und sonnengefarbter Haut. Er sah sich um und merkte, dass er sich auf einem Boot befand und dass es noch immer Nacht war und um ihn noch immer das Meer.

»Du Idiot!«, sagte er auf Spanisch. Er musste husten und spuckte einen Schwall Wasser aus. »Was zum Teufel hast du dir dabei gedacht, mich aus dem Wasser zu ziehen?«

Sein Spanisch uberraschte ihn selbst.

Er hatte zwar auf der Uberfahrt von Spanien kein Wort gesprochen, doch er musste wohl gelauscht haben, ohne es zu merken: tage-, nachte-, wochenlang. Und das wenige Spanisch, dass seine Mutter ihm beigebracht hatte, hatte sich in Jonathan ausgebreitet und war zu einem Garten aus Wortern und Satzen herangewachsen. Es war auf ganz naturliche Weise geschehen, ohne Absicht. Die Hulle, die Jonathan bis zu seinem Sturz ins Wasser gewesen war, hatte keine Absichten gehabt, keine Wunsche, keinen Willen.

Aber Jonathan, der jetzt aus der zerbrochenen Hulle geschlupft war, hatte durchaus einen Willen. Er hatte sich entschlossen, diese Welt zu verlassen – diese Welt, in der manche Menschen im Paradies lebten, auf Inseln voll bluhender Baume, und andere in der Holle, zwischen lichtlosen Nachten und verbrannten Hoffnungen. Er wollte zu seiner Familie. Er wollte verdammt noch mal nicht beim Sterben gestort werden.

»Ich habe dich gerettet«, sagte der Junge, der ihn aus dem Wasser gezogen hatte, mit gro?em Ernst. »Mein Name ist Jose und ich habe dich gerettet.«

»Ich habe nicht darum gebeten, gerettet zu werden«, sagte Jonathan.

Jose ging nicht darauf ein. »Du musst etwas Trockenes anziehen«, sagte er. »Dahinten liegt mein Rucksack. Es sind ein paar Kleider drin. Ich kummere mich um mein Steuer. Die Mariposa ist ein gutes Schiff, aber ewig steuert sie sich nicht selbst.«

Jonathan kam auf die Beine, hielt sich an der Reling fest und spuckte noch einen Schwall Meerwasser aus. Er hatte wieder uber Bord klettern wollen, sich zuruckfallen lassen ins Wasser, das fortsetzen, was er begonnen hatte – aber auf einmal fehlte ihm die Kraft. Er war mude, unendlich mude. Sterben kostet Kraft. Morgen, dachte er. Morgen vielleicht.

Er fror. Er fand den Rucksack, und beinahe erschien es ihm jetzt zu anstrengend, sich danach zu bucken. Er sah, dass Jose ihn beobachtete. »Ich … gehe … in die Kajute, um die Sachen anzuziehen«, sagte er.

Jose zuckte die Schultern. »Bitte.«

Jonathan offnete die winzige Tur am Ende der Treppe. In der Kajute war es dunkel, er konnte nur einzelne Schemen erkennen: einen Tisch und zwei schmale Banke, Regale … Er tastete sich durch den Inhalt von Joses Rucksack, fand ein Hemd und eine Hose und schloss die Tur hinter sich. In absoluter Dunkelheit schalte er sich aus seinen nassen Kleidern, schlupfte in die trockenen Sachen und atmete ihren fremden Geruch: den Geruch nach Tabak und Orangenschalen, nach Erde und Sonne und dem Saft gruner Pflanzen.

Auf einer der Banke fand er eine Wolldecke und verkroch sich darunter wie eine Schildkrote in ihrem Panzer. Die Schildkroten … am liebsten hatte Mama von den Schildkroten vorgelesen … Das Gerausch des Wassers, das drau?en gegen die Schiffswand schlug, war unbekannt und nah, ganz anders als die Gerausche der Isabelita oder des Ozeankreuzers, dessen stampfende Motoren ihn monatelang in den Schlaf gewiegt hatten. Dann waren da leise Schritte im Dunkeln, etwas wurde beiseitegeschoben: Jose musste heruntergekommen sein, um nach ihm zu sehen. Er verkroch sich tiefer unter der Decke. Sekunden spater schlief er fest und diesmal traumlos.

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